Quo vadis Buchdruck?

Die Theorien des kanadischen Philosophen, Geisteswissenschaftlers und Literaturkritikers Marshall McLuhan (1911 – 1980) gelten als Grundsteine der Medientheorie. Unter anderem prägte er den Begriff der Gutenberg-Galaxis und meinte damit die grundlegende Veränderung der Welt mit der Erfindung des Buchdrucks. Seiner Ansicht nach war das Zeitalter vor dem Buchdruck durch Mündlichkeit und vor allem durch die wenigen Skriptorien der Klöster geprägt.

 

Wie sehr Künstler vor der Erfindung des Buchdrucks versuchten anhand visueller Medien dem Betrachter Informationen weiterzugeben und Geschichten zu kommunizieren ist seit einigen Jahrzehnten Gegenstand kunstgeschichtlicher Forschung: Michael Viktor Schwarz erläutert in seiner Publikation „Visuelle Medien im christlichen Kult“[1] anhand einiger Fallbeispiele des 13. bis 16. Jahrhunderts den konzipierten Wissenstransfer einiger Kunstwerke, der Auftraggeber bzw. der ausführenden Künstler. Hans Belting erforschte in seinen grundlegenden Abhandlungen „Das Bild und sein Publikum im Mittelalter“[2] sowie in seinem mittlerweile zum kunsthistorischen Kanon gehörenden „Bild und Kult, Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst“[3] die visuellen Strategien, um Illiterati Zugang vor allem zu christlich geprägten Inhalten zu vermitteln.

 

Da kaum jemand – abgesehen von wenigen Gelehrten und Mönchen – der Schrift und des Lesens mächtig war und in Scriptorien mühsam Wissen in Buchform transkripiert, illustriert und abgeschrieben wurde, um Information weiter zu reichen, revolutionierte Johannes Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks umfassende Bereiche. Kenntnisse der Schrift und des Lesens wurden einer breiteren Schicht zugänglich und trugen aufgrund der schnelleren Verbreitung der Bilder und Texte zu einer größeren Alphabetisierung der Bevölkerung bei. Das Buch entwickelte sich zum Leitmedium der kommenden Epochen und der Wissenstransfer konzentrierte sich nicht mehr weitgehend auf visuellen Medien.

 

Interessanterweise war Asien der europäischen Zeit weit voraus ohne jedoch eine Reflektion auf europäische Seite zu produzieren. Der 11.Mai 868 markiert die erste in China hergestellte Druckversion eines der wichtigsten Texte - der Diamant-Sutra - , der mit Holztafeldruck-Verfahren hergestellt wurde. Als das älteste Buch der Welt gilt das koreanische Jikji, aus dem Jahre 1377, das mit Bronze – Lettern gedruckt wurde[4]. Weshalb der Buchdruck in Asien nicht jene Bedeutung errang, die er in Europa bekam, erklären Konrad Umlauf und Sigrid Pohl mit der Tatsache, dass in asiatischen Gesellschaften kein Interesse an einer größeren Textvervielfältigung vorlag[5]. Der aufkeimende europäische Humanismus und die Renaissance dagegen bedingten in Europa das Interesse an einer leichteren Zugänglichkeit antiker Texte, der Druck und der Verkauf päpstlicher Ablassbriefe, um den Neubau des Petersdoms in Rom zu finanzieren, sowie der Protest Martin Luthers und die Reformation verlangten nach Textvervielfältigungen in sehr großem Ausmaß[6]. Damit erreichte Johannes Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern einen Siegeszug. Diese Tatsache läutet für Marshall McLuhan ein neues Zeitalter – um etwa 1450 – ein:

 

„Der Buchdruck neigte dazu, die Sprache von einem Mittel der Wahrnehmung zu einer tragbaren Ware zu verändern. Der Buchdruck ist nicht nur eine Technologie, sondern selbst ein natürliches Vorkommen oder Rohmaterial wie Baumwolle oder Holz oder das Radio; und wie jedes Rohmaterial formt es nicht nur die persönlichen Sinnesverhältnisse, sondern auch die Muster gemeinschaftlicher Wechselwirkung.“

 

Erst 1894, bedingt durch Guglielmo Marconis Erfindung der drahtlosen Telekommunikation, entwickelte sich ein neues Zeitalter, das schließlich auch in einer elektronisch vernetzten Gesellschaft mündete, die Marshall McLuhan als das „Globale Dorf“ bezeichnete.

 

„Wenn eine neue Technologie einen oder mehrere unserer Sinne in die soziale Welt ausdehnt, werden sich neue Verhältnisse zwischen allen unseren Sinnen ergeben. Dies ist vergleichbar mit dem Hinzufügen einer neuen Note zu einer Melodie. Wenn sich die Verhältnisse der Sinne in irgendeiner Kultur ändern, wird das, was vorher klar war, trüb werden, und was unklar oder trüb war, wird durchsichtig werden.“[7]

 

Die Digitalisierung und ein Befinden der weltweiten Gesellschaft im „Globalen Dorf“ resultierte bereits seit der Mitte der 1960er Jahren aus der Bildung der ersten Grundlagen für die Entwicklung des Internets[8]. Vordenker dieser technologischen Revolution war aber schon Murray Leinster, der in seiner Kurzgeschichte „ A Logic Named Joe“ 1946[9] die frühe Version des Internets und den Gebrauch des PC geschildert hat. Am 29. Oktober 1969 schließlich war die Geburtsstunde des Internets, als im US-Wissenschaftsnetz Arpanet erstmals zwei Computer miteinander kommunizierten[10]. Im Jahre 1993 betrug die prozentuelle Auslastung des Informationsflusses schätzungsweise lediglich 1 %, wogegen bereits 2007 rund 97 % der weltweit ausgetauschten Bytes auf den Transfer via Internet zurückführten[11]. 2018 schließlich nutzen 81 % der Bevölkerung in den Industriestaaten und 41 % der Menschen in Entwicklungsländern das Internet[12].

 

Die Rezeption technologischer Mittel für den Wissenstransfer und die fortschreitende Digitalisierung der gesellschaftlichen Kommunikation egalisiert Marshall McLuhans Vision des „Globalen Dorfes“. Der Forscher Jeremiah Dittmer argumentiert aus ökonomischer Perspektive die Entwicklung des Internets als einen ähnlichen Zustand wie die Erfindung des Buchdrucks: Es wurde billiger und einfacher, Wissen zu speichern und auszutauschen[13].

 

Weshalb aber weiterhin der Buchdruck als Medium existierte, erörterte der Leseforscher Adriaan van der Weel in einem Interview 2017[14]:

 

Es gibt wirklich Menschen, die haben eine große Nähe zu Papier, die mögen den Geruch, die mögen die Beschaffenheit des Papiers, sie haben eine gewisse emotionale Bindung. .... Aber es gilt als bewiesen – wir sind uns dessen gar nicht immer bewusst –, dass wir mit unseren Fingern und mit unseren Händen, wenn wir ein Buch lesen, dass das durchaus einen Einfluss auf uns hat letztendlich. Zum Beispiel merken wir durchaus, dass die rechte Seite des Buches ab einem gewissen Punkt immer weniger wiegt. Das heißt, wir machen einen Fortschritt, wir kommen voran in unserem Buch. Und das Gewicht eines Buchs und seine Beschaffenheit haben etwas mit unserer Leseerfahrung zu tun, und das ist auch wieder so eine kognitive Erfahrung. Beispielsweise hat man wirklich herausgefunden, dass es einem Leser leichter fällt, die Chronologie der Ereignisse, die in einem Buch stattfinden, präzise zu benennen, wenn er das Buch als Papier gelesen hat. Das fällt ihm schwerer, wenn er da nur digital gelesen hat.[15]

 

In der Frage inwieweit der Buchdruck noch als Medium gebraucht wird, konstatiert Wikipedia eine Renaissance des Buchdruckes aufgrund seiner gestalterischen Mittel seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts für geschäftliche sowie private Drucksorten[16]. Da gerade die Haptik, das Visuelle und Begreifen mit den Händen im Kunstbereich eine große Rolle spielt, wird das Buch als Träger des Wissens doch seine Bedeutung behalten. Jedoch ist es nicht mehr das Leitmotiv einer Epoche. Aber wie bereits die erste Ausstellung der Wissenschaf(f)t Kunst Projektreihe im Künstlerhaus 2019 zeigte: Ciceros Zitat: "Ein Raum ohne Bücher ist ein Körper ohne Seele." hat auch noch in der gegenwärtigen Epoche Bestand, denn ein Buch ist mehr als nur ein Medium des Wissenstransfers.

 

Gabriele Baumgartner, November 2020



[1]Michael Viktor Schwarz, Visuelle Medien im christlichen Kult, Fallstudien aus dem 13. bis 16. Jahrhundert, 2002

[2]Hans Belting, Das Bild und sein Publikum im Mittelalter, Berlin 1981

[3]Hans Belting, Bild und Kult, Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München, 1990

[4]Buchdruck, Wikipedia, 18. November 2020

[5]Konrad Umlauf, Sigrid Pohl, Eine kurze Geschichte von Buch und Buchhandel, LIBREAS. Library Ideas, 34 (2018), 19. November 2020

[6]Konrad Umlauf, Sigrid Pohl, Eine kurze Geschichte von Buch und Buchhandel, LIBREAS. Library Ideas, 34 (2018), 19. November 2020

[7] Wikipedia, Marshall McLuhan, 18. November 2020, zitiert aus Gutenberg Galaxy, S 41

[8]Geschichte des Internets, Wikipedia, 18. November 2020

[9]Murray Leinster, Wikipedia, 18. November 2020

[10]Heute vor 50 Jahren wurde das Internet erfunden, Futurzone.at, Kurier, abgerufen am 18. November 2020

[11]Geschichte des Internets, Wikipedia, 18. November 2020

[12]Heute vor 50 Jahren wurde das Internet erfunden, Futurzone.at, Kurier, abgerufen am 18. November 2020

[13]Wirtschaftsboom: Der Daniel-Düsentrieb-Effekt, in: Handelsblatt, 29. 10. 2011, abgerufen am 18. November 2020

[14]Digitales kontra analoges Lesen: Stellt die Digitalisierung das Lesen auf den Kopf? In: Deutschlandfunk Kultur, 23. 8. 2017, abgerufen am 18. November 2020

[15]Digitales kontra analoges Lesen: Stellt die Digitalisierung das Lesen auf den Kopf? In: Deutschlandfunk Kultur, 23. 8. 2017, abgerufen am 18. November 2020

[16]Buchdruck, Wikipedia, 18. November 2020